Mittwoch, 7. März 2012

Ein Jahr war nicht genug – länger bleiben, zurückgehen oder nach Alternativen suchen?




Diesmal geht es u.a. um:
Zeit zum Abschied nehmen
Ist Neuseeland wirklich ein „Slice of Heaven“?
Der Versuch einer Bilanz



 (Otaki Beach)

Warum habe ich mich auf den Weg in ein anderes Land gemacht, welches auf der anderen Seite der Welt liegt, um dort für ein Jahr oder länger zu leben und zu arbeiten?

Gab es ausreichend gute Gründe, meine eigene, sichere Existenzgrundlage eines niedergelassenen Arztes aufzugeben und in einem völlig anders strukturierten Gesundheitssystem neu anzufangen?

Was wäre passiert, wenn sich die Dinge nicht so entwickelt hätten, wie ich es mit bestmöglicher Vorbereitung geplant und erhofft hatte?

Welche Erfahrungen haben mein Leben bereichert? Was hätte ich lieber nicht erlebt?

War es die Mühe wert? Würde ich den gleichen Schritt noch einmal machen?

Wie wird sich meine Zukunft gestalten, wenn ich bald ‚good-bye’ zu Neuseeland sage?

Oder sage ich vielleicht ‚see you again’?


 (Wanderung bei Otaki Forks)


 (Reste der Dampfmaschine einer Sägemühle, Otaki Forks)




Ich wäre glücklich, für alle Fragen schon eine Antwort parat zu haben. Einige Fragen werde ich wohl erst mit einigem Abstand im Rückblick beantworten können. Für Andere, wie z.B. die nach der ‚Bereicherung meines Leben’, müsste ich wohl ein Buch schreiben, um es auch nur halbwegs umfassend beschreiben zu können.

Für die ganz Neugierigen, die mit einer Kurzversion meiner Gedanken zufrieden sind, hier meine ultra-kurz Antworten:

Auf keinen Fall wollte ich bis zu meiner Pensionierung so weitermachen wie bisher.

Ja, es gab viele gute Gründe, alles aufzugeben und mich auf eine ungewisse Zukunft einzulassen. Hätte ich nicht losgelassen, wäre ich stehen geblieben.

Wenn es nicht so läuft wie geplant, ist das der Normalfall, nicht die Ausnahme. Meine Kreativität, einen Plan B (und C) zu entwickeln, erlebe ich nur außerhalb der Planmäßigkeit.

Alle Erfahrungen haben mein Leben bereichert und ich hätte nichts vermissen wollen.

Ja, es war alle Mühen wert und ich würde es wieder genau so machen.

Ich habe keine Glaskugel und bin gespannt auf die Zukunft.

Zu Neuseeland sage ich definitiv ‚see you again’!


 (Wanderung bei Otaki Forks)




 
Meine Zeit in Neuseeland geht bald dem Ende zu. Mitte März 2012, also fast zwei Jahre nachdem ich das erste Mal mit meinem Koffer (23kg) und Handgepäck (7kg) in Auckland gelandet war, werde ich mich von allen Menschen, die ich in der Zwischenzeit hier kennen gelernt habe, verabschieden müssen.

Es wird also wieder eine Zeit des Abschiednehmens geben, aber damit fängt ja oft der spannende Teil (wie geht es weiter?) erst an.


 (Kunstobjekte in Wellington)





Unabhängig von meiner persönlichen Entwicklung frage ich mich häufig, was waren die Highlights an Erkenntnisgewinn, die mich (und vielleicht andere?) zum Nachdenken anregen sollten, ob all die Dinge, die so selbstverständlich erscheinen, es tatsächlich sind?

Was können Leute von Neuseeland lernen und wo hat Neuseeland „Entwicklungspotential“?


 (Tongariro National Park)



Es müssen ja nicht gleich weltbewegende Dinge sein, oft sind es die Kleinigkeiten, bei denen man sich hinterher fragt, ja warum ist das bei uns in Deutschland noch nicht eingeführt worden.

Wie z.B. die Sache mit dem Vermerk im Führerschein, ob jemand Organspender sein möchte oder nicht. Jeder Kiwi, der seinen Führerschein beantragt oder verlängern möchte, wird um eine diesbezügliche Stellungnahme gebeten und diese Information steht im scheckkartengroßen Führerschein, dort wo sie im Fall des Falles sofort verfügbar ist.


 (Auf dem Weg nach Kaikoura, Südinsel)




Oder die Regelung, ab einem bestimmten Alter (75 Jahre) die Fahrtauglichkeit alle zwei Jahr nach medizinischen Gesichtspunkten (Sehfähigkeit, Koordination, Medikamente, neue Erkrankungen etc.) zu überprüfen.

Der Führerschein mit „Verfallsdatum“ würde dazu beitragen, den Straßenverkehr sicherer zu machen und eine ärztliche Untersuchung wäre wenigstens ein gewisser Schutz vor einer Selbstüberschätzung bezüglich der „medical fitness to drive“ / Fahrtauglichkeit.


 (Lake Tekapo, Südinsel)




Manche Regelungen, die in Neuseeland m. E. hervorragend entwickelt wurden, betreffen einzelne Personen, Andere betreffen einzelne Berufsgruppen oder die Gesellschaft insgesamt.

Der Professionalisierungsgrad der Ärzte, Nurses aber auch der Caregiver hat mich sehr beeindruckt. Es handelt sich dabei um eine über viele Jahre gewachsene, eigenverantwortliche Gestaltung des Berufsbildes, die von den jeweiligen Berufsverbänden sehr ernst genommen wird, mit dem Ziel, den bestmöglichen Ausbildungsstand zu gewährleisten.


 (Kea, Arthurs Pass)

Für die Nurses war damit z. B. ein Wechsel von einer relativ einfachen Ausbildung hin zu einem mehrjährigen Studium verbunden.

Die Weiterbildung ist damit aber nicht beendet, sondern kann durch einen Aufbaustudiengang zum „Nurse Practitioner“ erweitert werden, was einer Spezialisierung gleichkommt und beispielsweise die Möglichkeit der Verschreibung von Medikamenten eröffnet.


 (Kea, Arthurs Pass)

Die Qualifikation der Ärzte wird hier durch das „Medical Council“ überwacht und durch unterschiedliche Zertifizierungsverfahren auf einem hohen Niveau gehalten.

Erst kürzlich erhielt ich ein Schreiben vom Medical Council, welches über ein neues Zertifizierungsprogramm informierte, um die „competence and fitness to practice“ durch entsprechend hohe Standards sicher zu stellen. Angekündigt wurde ein neues Programm, welches aus mindestens 50 Stunden „Continuing Professional Development“ besteht, u. a. mit „peer review, clinical audit, patient feedback questionnaires, practice review und continuing medical education activities”. 

Ob die Ärzte in Neuseeland mit diesen Ankündigungen so glücklich sind, möchte ich allerdings bezweifeln, zumal die Zertifizierung mit erheblichen Kosten verbunden ist.


 (Kea, Arthurs Pass)

Eine ganz andere Regelung, der ich zu Anfang eher skeptisch gegenüber stand, betrifft die Geschwindigkeitsbegrenzung. Ich fragte mich, wie man in einem so großen Land (Neuseeland hat eine Fläche von ca. 286.000 km2, Deutschland ca. 375.000km2) in akzeptabler Zeit von A nach B kommen soll, wenn man mit dem Auto höchstens 100 km/h fahren darf.

Auch die strikte Einhaltung von 50 km/h im Stadtgebiet erschien mir etwas übertrieben.

Mittlerweile hat sich meine Meinung dazu grundlegend gewandelt.



Zum Jahresende gab es hier in den Medien wieder Berichte über die Zahl der Verkehrstoten. Das Autofahren in Neuseeland ist wegen der Straßenverhältnisse mit vielen unübersichtlichen Kurven und unebenen Straßen sehr anstrengend und nicht ohne Risiken.

Durch eine konsequente Geschwindigkeitsüberwachung mit empfindlichen Geldbußen schon bei einer Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit von 5 km/h (neben anderen Maßnahmen die den Verkehr sicherer gemacht haben), konnte in den letzten Jahren die Zahl der Verkehrstoten in Neuseeland deutlich gesenkt werden, zuletzt von 396 (2010) auf 284 (2011).



In Deutschland wurden im gleichen Zeitraum laut Statistischem Bundesamt 3648 (2010) bzw. etwa 3900 (2011, geschätzt) Menschen im Straßenverkehr getötet.

Ich habe mich in relativ kurzer Zeit an die „geringere“ Geschwindigkeit gewöhnt und empfinde diese Art von „Entschleunigung“ als äußerst angenehm.

Ich habe auch keine Sorge mehr, nicht schnell genug von A nach B zu kommen, sondern fahre etwas früher los und freue mich, wenn ich sicher angekommen bin.



Es bleibt die Frage, wie lange in Deutschland die persönliche Freiheit zum schnellen Autofahren als höherwertiger eingeschätzt wird, als die Risikobegrenzung von Unfall und Tod durch eine Entschleunigung im Straßenverkehr.

Tempo 100 auf deutschen Autobahnen und „echte“ 50 km/h im Stadtverkehr wären sicherlich völlig unpopulär, die Zahl der jährlichen Verkehrstoten würde aber vermutlich deutlich sinken.



Mich hat natürlich aufgrund meiner Arbeit besonders interessiert, wie in Neuseeland das Gesundheitssystem funktioniert und welchen Einfluss die unterschiedlichen Systeme auf die Versorgung der Patienten und meine tägliche Arbeit haben.

Der Blick über den Tellerrand und die Erfahrungen in zwei unterschiedlichen Ländern zu leben haben mir deutlich gemacht, dass nichts selbstverständlich ist. Je nachdem mit wem ich spreche, ob mit Deutschen oder ‚Kiwis’, wäre es ein Leichtes, anhand von einzelnen Beispielen das eine oder andere Gesundheitssystem zu loben oder zu kritisieren.

Anstelle von Bewertungen war es mir aber wichtiger, zu erfahren was anders ist, und wenn möglich zu verstehen, aus welchen Gründen es anders ist.


 (Akaroa)





Deutschlands komplexes Gesundheitssystem (mit ca. 150 Krankenkassen, Mehrfachversorgung mit Krankenhaussektor, niedergelassenen Fachärzten und Hausärzten, Beitragsfinanzierung durch ca. 15% des Arbeitnehmereinkommens und einem fast gleichen Arbeitgeberanteil, ca. 10% Privatpatienten) hat sich aufgrund seiner historischen Wurzeln in eine bestimmte Richtung entwickelt.

Die starken Interessenvertretungen (der KV für die Ärzte und der Kassen für die Patienten) haben zusammen mit der erheblichen Einflussnahme durch die jeweils amtierenden Gesundheitsminister dazu beigetragen, dass ein bürokratisches, überreguliertes Verwaltungssystem entstanden ist, das kaum noch irgend jemand durch- geschweige denn überschauen kann.

Der Patient bewegt sich in dem System mit seiner Chipkarte und der „freien Arztwahl“ wie ein Kunde in einem Selbstbedienungsladen, bei dem die Kassen durch einen monatlichen Zwangsbeitrag ersetzt wurden.

Nur, was macht ein Patient mit der so gewonnen Freiheit? Natürlich nutzt er das System so gut es geht, er hat ja schließlich dafür bezahlt, und trotzdem wundert sich jeder, dass die Beiträge immer weiter steigen.

Wer jeden Monat 15% von seinem Bruttoeinkommen abgezogen bekommt, möchte dafür natürlich eine entsprechende Leistung erhalten. Dieser Leistungsgedanke hat allerdings nicht mehr viel mit der Absicherung von Gesundheitsrisiken zu tun, für welche die Krankenversicherung einmal entwickelt wurde.

Wenn dann auch noch die Leistungen ohne spürbare Konsequenzen (z.B. Eigenanteil) und ohne medizinischen Sachverstand (z.B. durch einen Hausarzt der als Gatekeeper fungiert) genutzt werden, ist ein sorgsamer Umgang mit den vorhandenen Ressourcen kaum denkbar.


 (bei Picton)


Neuseeland hat ebenfalls ein sehr komplexes Gesundheitssystem, allerdings mit einer historisch ganz anderen Entwicklung. Hier ist der Staat für die Bereitstellung einer Gesundheitsversorgung zuständig. Folglich wird das System zu 100% steuerfinanziert.

Ein weiterer, entscheidender Unterschied besteht darin, dass dieses System hausarztzentriert ist, d.h. jeder Patient kann Leistungen nur über seinen Hausarzt in Anspruch nehmen (von Notfällen einmal abgesehen).

Patienten zahlen keinen monatlichen Versicherungsbeitrag, d.h. dem Arbeitnehmer (und Arbeitgeber) werden vom Gehalt keine monatlichen Kosten für die Krankenversicherung abgezogen, dafür wird für Patienten bei jedem Arztbesuch eine Gebühr fällig (ca. 50% Eigenanteil an den Behandlungskosten, zwischen NZ$ 30 / €19 und NZ$ 60 / €38, Kinder unter sechs Jahren erhalten kostenfreie Behandlung), welche sofort am Tresen zu entrichten ist.


 (Queen Charlotte Sound)

Auch hier besteht „freie Arztwahl“, die sich allerdings auf die Wahl des Hausarztes beschränkt. Welcher Facharzt oder welche Krankenhausabteilung ggf. Spezialuntersuchungen /-behandlungen übernimmt entscheidet der Hausarzt bzw. die Abteilung, an welche der Hausarzt den Patienten überweist.

Wartelisten für Facharztbehandlungen sind die Kehrseite der Medaille. Allerdings kann sich jeder Patient zusätzlich privat versichern, für Leistungen, welche das staatliche System nicht abdeckt, oder um Wartelisten zu umgehen.



Durch den relativ hohen Eigenanteil nutzen Patient in Neuseeland das Gesundheitssystem nur, wenn das Anliegen es ihnen wert ist, dafür mindestens NZ$ 30 auf den Tresen zu legen. Und es wird sehr darauf geachtet, dass für diesen Betrag auch eine entsprechend gute Leistung folgt.

Der Hausarzt bzw. die Praxis übernimmt die Koordinierung der ambulanten Versorgung des Patienten und bekommt dafür zeitnah ein Leistungsgerechtes Entgelt, ohne Regressrisiko, ohne floatenden Punktwert, dafür aber mit viel Wertschätzung für die geleistete Arbeit.


 (Queen Charlotte Sound)


Unter diesen Arbeitsbedingungen habe ich meine Freude am Beruf des Hausarztes wiedererlangt.

Es steht außer Frage, dass auch in Neuseeland Hausärzte eine große Verantwortung tragen. Die Arbeitsbelastung ist sicherlich teil des Berufes, wurde aber von mir während meines Aufenthaltes in Neuseeland in weit größerem Maße als akzeptabel wahrgenommen, weil ich mich in meiner täglichen Arbeit wieder um medizinische Fragen kümmern konnte (welches ist die adäquate Behandlung?) und ich hier einen klaren Handlungsauftrag (Koordinierung der hausärztlichen Versorgung) hatte, ohne ständig im Hinterstübchen daran denken zu müssen, möglicherweise für teure Behandlungen in die Regressfalle zu tappen.


 (Queen Charlotte Sound)


Die Naturschönheiten beider Inseln, die entspannte Lebensart der Kiwis und die vielen Kontakte zu liebenswürdigen Menschen haben selbstverständlich wesentlich dazu beigetragen, dass ich mich hier schon nach kurzer Zeit sehr wohl gefühlt habe und ein Jahr länger geblieben bin, als es ursprünglich von mir geplant war.

Aber auch zwei Jahre waren bei weitem nicht genug, mir alles ansehen zu können. Die Liste an Dingen, die ich in Neuseeland noch sehen und erleben möchte ist immer noch sehr lang. Beim nächsten Besuch werde ich meine Inselerkundungen fortsetzen.


 (Tane Mahuta, Kauri Tree, Waipoua Forest)

Jedem Kollegen, der nach dem lesen meines Blogs immer noch unschlüssig ist, ob sich ein Jahr „leben und arbeiten als Hausarzt in Neuseeland“ wirklich lohnt, kann ich nur sagen, es wäre sehr schade, die Chance nicht zu ergreifen, wenn man sie geboten bekommt.

Für mich war es sowohl beruflich wie persönlich eine großartige Bereicherung.


 (Russel)

Allen anderen Lesern des Blogs habe ich hoffentlich genügend Informationen jenseits des Gesundheitssystems geben können um eine Vorstellung davon zu bekommen, was für ein schönes Land sich auf der anderen Seite der Welt befindet.
Ein Besuch lohnt sich allemal.


 (Russel)

Ich bin mit einem Koffer gekommen und werde mit einem Koffer wieder zurückfliegen, zusätzlich nehme ich aber unzählige Erfahrungen und noch mehr Bilder wieder mit.

Davon konnte ich hier allerdings nur eine kleine Auswahl zeigen und ich hoffe, es waren für jeden Leser ein paar interessante Einblicke und Anregungen dabei.


 (Kerikeri)





Jedem, der sich auf eine Reise nach Neuseeland macht, wünsche ich viel Erfolg und tolle Erlebnisse, denn wo sonst gibt es das schon, dass man in zwei Jahren Erfahrungen von gefühlten 20 Jahren sammeln kann ...


(Sonnenuntergang Kapiti Island)