Abschied von der Praxis in Putaruru
Einsichten in Neuseelands Gesundheitssystem
Fahrt von Hamilton nach Levin mit dem „Overlander“
(Mittagspause auf "meiner" Veranda)
Abschied von der Praxis in Putaruru 16.07.10
Zwei Wochen gehen sehr schnell vorbei, vor allem wenn man sich in so viele neue Dinge im Praxisalltag einarbeiten muss.
Wie funktioniert das Computerprogramm? Wie drucke ich die unterschiedlichen Formulare aus? Wo finde ich die Laborwerte? Wie schreibe ich eine Überweisung an einen Fachkollegen? Wie heißt das Medikament, welches ich verordnen möchte? Welche Medikamente darf ich verordnen, für welche muss ich eine besondere Genehmigung beantragen? Wie und wo bekomme ich einen schnellen Termin für eine spezielle Untersuchung? Was heißt noch mal Blutbild auf Englisch? Welche Telefonnummern brauche ich für meinen Notdienst? Wie erreiche ich den Aufnahmearzt im Krankenhaus? Was muss ich bei einer Fahrtauglichkeitsuntersuchung alles beachten? Welches Formular fülle ich für die Untersuchung und Krankschreibung nach einem Unfall aus? Warum druckt der Computer das Rezept schon wieder nicht?
Da ist es doch gut, viele nette und geduldige Leute um sich zu haben, die man mit seinen Fragen immer wieder löchern kann. Ich komme mir wie ein Anfänger vor. Bei den einfachsten Dingen, die für mich in Deutschland selbstverständlich und geläufig waren, muss ich jetzt nachfragen. Zum Glück habe ich nach den ersten Tagen das Gefühl, wenigstens ein paar Dinge schon selbst erledigen zu können, aber immer wieder stolpere ich über neue Fragen. Es ist ein fortlaufender Lernprozess. Und ich bin ganz schön gefordert.
Heute ist mein letzter Tag in dieser Praxis. Ich kann es gar nicht glauben, dass die Zeit schon vorbei sein soll. Bin doch gerade vor kurzem erst angekommen.
Einsichten in ein anderes Gesundheitssystem
Was habe ich in dieser Zeit für Eindrücke gesammelt?
Ich war, ehrlich gesagt, etwas skeptisch, bevor ich hier hergefahren bin.
„Was soll man schon erwarten, in einem kleinen Dorf mitten im Irgendwo auf dem platten Land", dachte ich.
"Der nächst größere Ort ist weit entfernt. Bestimmt ist es hier total langweilig.“
Ob hier nichts los ist, hängt sicher von der Frage ab, was man mit seiner Zeit anfängt. Mir fehlte wegen der Kürze der Zeit natürlich die Anbindung an entsprechende Freizeitaktivitäten. Und da ich tagsüber gearbeitet habe, war auch nicht sehr viel Zeit übrig, nach Feierabend noch etwas zu unternehmen. Langweilig war es mir aber hier keinen Moment.
Meine Eindrücke, welche ich sowohl in der Praxis als auch bei meinen Ausflüge in die nähere Umgebung gewinnen konnte, waren insgesamt sehr positiv. Von meinen Gesprächen mit den Mitarbeiten der Praxis und natürlich auch von den Patienten konnte ich erfahren, dass die gefühlte Lebensqualität hier sehr hoch ist. Einige Leute erzählten mir, sie würden nicht im Entferntesten auf die Idee kommen, in eine größere Stadt ziehen zu wollen. Schon gar nicht nach Auckland, da sei alles so laut und hektisch. Sie hätten hier doch alles was sie brauchen und würden sich sehr wohl fühlen. So kann man (wie ich) mit seinem Urteil voll daneben liegen. Die Leute fühlen sich hier alle sehr wohl in dieser schönen ländlichen Umgebung.
Einige Gespräche drehten sich natürlich auch um die gesundheitliche Versorgung der Patienten. Das Durchschnittsalter der Hausärzte in diesem Bezirk ist offenbar sehr hoch. Es gibt einige Ärzte, die schon über siebzig Jahre alt sind und immer noch praktizieren, da sie wissen, es wird keinen Nachfolger geben, der ihre Patienten versorgt. Und da ihnen die Arbeit und der Kontakt zu den Patienten viel bedeutet, arbeiten sie halt weiter.
Es ist absehbar, dass in den nächsten Jahren viele Praxen aus Altersgründen geschlossen werden. Den Patienten macht das natürlich Angst, denn sie wissen nicht, von wem sie dann weiterversorgt werden. Ähnlich wie in Niedersachsen, wo das Durchschnittsalter der Hausärzte ebenfalls sehr hoch ist, gibt es also auch hier das Phänomen der „alternden Hausärzte“. Auch hier ist nicht erkennbar, woher eine ausreichende Anzahl von Nachfolgern kommen soll.
Die hausärztliche Versorgung in dieser ländlichen Region ist nach meinem Eindruck ausgezeichnet organisiert. Auch hier ist es nur als Teamleistung zu bewältigen. In den Hausarztpraxen gibt es eine klare Aufgabenteilung zwischen
administrativen Aufgaben,
welche von einer bzw. mehreren „Receptionists“ sowie von der „Practice Managerin“
übernommen werden,
medizinischen Aufgaben,
welche von den „Nurses“ in Zusammenarbeit mit den Ärzten behandelt werden.
Der professionalisierungsgrad der „Nurses“ ist sehr hoch. Sie kümmern sich auch um viele medizinische Belange, die in Deutschland (noch) von Ärzten geleistet werden. Es ist eine enorme Unterstützung, die man dadurch erfährt, sich nicht um alles selber kümmern zu müssen. So wird beispielsweise die primäre Wundversorgung oder Erstdiagnostik bei einfachen Gesundheitsproblemen (z. B. Beschwerden durch Harnwegsinfekte) von der „Nurse“ so weit vorbereitet, dass der Arzt sich im Wesentlichen um medizinische Entscheidungsprozesse kümmern kann.
Ein Großteil der Verwaltungsarbeiten werden von der „Receptionist“ übernommen, d.h. Arbeiten wie z.B. telefonische Terminvergabe oder Wiedereinbestellung von Patienten, Aktenverwaltung und Briefverkehr. Das entlastet wiederum die „Nurse“, die sich um Voruntersuchung und Betreuung von Patienten kümmert.
Im Unterschied zu Deutschland wird in den Hausarztpraxen hier z.B. kein Blut abgenommen. Die Patienten erhalten vom Arzt einen Laborschein, auf dem vermerkt ist, welche Untersuchungen durchgeführt werden sollen. Damit geht der Patient zum Labor, wo das Blut abgenommen und untersucht wird. Es muss also nicht jede Praxis sein eigenes Personal damit beschäftigen, vormittags Blut abzunehmen, sondern die Patienten von allen umliegenden Praxen fahren zu einem zentral gelegenen Labor.
Die Facharztversorgung ist hier völlig anders organisiert, als ich es von Deutschland her gewohnt war. Es gibt in Neuseeland nicht so viele Fachärzte, daher übernehmen Hausärzte hier Versorgungsbereiche, die in Deutschland von Fachärzten abgedeckt werden. Die fachlichen Anforderungen sind insofern m. E. für die Hausärzte hier deutlich höher einzustufen.
Durch die geringere Anzahl an Fachärzten erhält der Hausarzt hier in viel stärkerem Maße eine „Gatekeeper-Funktion“, d.h. der Arzt (und nicht der Patient) entscheidet, ob und wann jemand überwiesen wird. Eine Überweisung ist zwangsläufig mit Wartezeiten verbunden, die abhängig von dem Schweregrad des Gesundheitsproblems und den verfügbaren Kapazitäten der entsprechenden Fachärzte auch schon mal ein paar Monate dauern kann.
Für jede Überweisung wird ein detaillierter Bericht des Hausarztes mit den medizinischen Hintergrundinformationen geschrieben, so dass die Facharztpraxis, welche in aller Regel an einem Krankenhaus ansässig ist, entscheiden kann, wie dringlich das Anliegen ist.
Auch hier gibt es die Möglichkeit, sich privat um einen Termin zu kümmern, d.h. die Untersuchung privat zu bezahlen, was die Wartezeit etwas verkürzen kann. Jeder Facharzt hat also neben seiner Praxis im Krankenhaus noch eine Privatsprechstunde.
Die Mehrklassenmedizin wird demnach auch hier gepflegt.
Die Kosten der Privatbehandlung sind für viele Patienten allerdings so hoch, dass sie lieber die Wartezeiten des steuerfinanzierten Gesundheitssystems in Anspruch nehmen. Die Patienten nehmen es gelassen, weil sie sich an die Wartezeiten schon gewöhnt haben. Nur ich werde da manchmal noch ungeduldig, weil ich von deutschen Verhältnissen verwöhnt bin.
Die Arbeit als Hausarzt empfinde ich als sehr angenehm. Vor allem bin ich überaus positiv davon angetan, dass es hier nicht, wie in Deutschland, eine ewig andauernde und Existenz bedrohende Regressandrohung gibt.
Das Wort Regressandrohung ist hier ein Fremdwort. Ich habe den Verdacht, so etwas gibt es nur in Deutschland. Mich wundert allerdings, warum in Deutschland ausgerechnet eine so bedrohte Spezies wie die deutschen Hausärzte von der Regressgefahr betroffen gemacht werden und warum die Kollegen diese Gängelei immer noch mit sich machen lassen.
Wen wundert es, dass in den letzten Jahren kaum noch Medizinstudenten für den Beruf des Hausarztes begeistert werden können und in Folge davon, der Nachwuchsmangel nicht zu beseitigen ist?
Von diesen Maßnahmen, einer ganzen Berufsgruppe das Leben schwer zu machen, ist man in Neuseeland zum Glück sehr weit entfernt. Ich kann verordnen was ich für notwendig erachte. Nur für einzelne, sehr teure Medikamente muss eine besondere Bewilligung beantragen werden, welche bei entsprechender Begründung in aller Regel genehmigt wird.
Ich verlasse Putaruru mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Der Einstige in das Neuseeländische Gesundheitssystem ist mir durch diese zwei Wochen sehr erleichtert worden. Ich hatte genug Zeit und Gelegenheit, die Besonderheiten dieses Versorgungssystems kennen zu lernen. Nun heißt es wieder Abschied nehmen, von netten Leuten, die ich hier getroffen habe, von einem Praxisteam das mich sehr freundlich aufgenommen und unterstützt hat. An das „klein Dorf mitten im Irgendwo auf dem platten Land“ hatte ich mich auch schon so gewöhnt, dass ich eigentlich gerne noch länger geblieben wäre.
Nächste Woche am Montag werde ich in „meiner“ Praxis in Levin erwartet. Auf den Anfang dort freue ich mich schon ...
Fahrt von Hamilton nach Levin 17.07.10
Morgens früh um 7.00 Uhr mache ich mich auf den Weg nach Hamilton, wo ich meinen Mietwagen abgebe und auf den „Overlander“ (www.tranzscenic.co.nz) warte, den Zug, der mich nach Levin zurückbringen wird.
Ich bin sehr früh am vollkommen leeren Bahnhof eingetroffen. Immer wieder muss ich mir in Erinnerung rufen, dass hier „nur“ etwa 4 Millionen Menschen leben, die Meisten davon in Auckland.
Während in Deutschland etwa 230 Menschen pro km2 leben, sind es in Neuseeland gerade mal 16 pro km2 !
Kein Wunder, dass heute morgen hier niemand aufgetaucht ist :-)
Der Zug um 9.50 Uhr kommt aus Auckland und ist der Einzige, der heute hier abfährt. Langsam füllt sich der Bahnsteig mit einigen Touristen und wenigen Einheimischen. Das Gepäck wird in Empfang genommen und später im Gepäckabteil untergebracht. Die freundliche Bahnangestellte gibt mir meine Platzkarte. Alles in Ruhe und Gemütlichkeit, bloß keine Hektik, so etwas wäre hier undenkbar.
Als der Zug eintrifft wird das Gepäck verladen und dann geht es in gemächlichem Tempo los, durch eine hügelige Landschaft, die unendlich weit zu sein scheint. Grüne wiesen, so weit ich sehen kann. Unterwegs wird durch Lautsprecher erklärt, über welche Brücken wir fahren und an welchen Sehenswürdigkeiten wir vorbeikommen. Die Brücken spannen sich über beeindruckende Schluchten. Tief unter uns sieht man mächtige Flüsse. Ich hoffe doch, dass die Brückenbauer solide gearbeitet haben.
Wir halten an Bahnstationen mit so schwer auszusprechenden Namen wie Otorohanga, Te Kuiti und Taumarunui. An der Station National Park halten wir für eine etwas längere Pause so dass man sich mal ein bisschen die Füße vertreten kann.
Weiter geht es durch riesige Weideflächen. Wir sehen Gegenden, wo man mit dem Auto nicht hinkommen würde. Wer die Gelegenheit hat mit dem „Overlander“ zu fahren, sollte sich diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen.
Am späten Nachmittag komme ich in Levin an, wo ich von Errol am Bahnhof abgeholt werde. Heute Abend bin ich von meinen Vermietern zum Dinner eingeladen. Für mein leibliches Wohl ist also gesorgt und es ist schön wieder „zuhause“ zu sein.
Gestern ist bei Errol und Diane ihr neuer Austauschschüler eingetroffen, Willi aus Finnland.
Am nächsten Morgen treffe ich Will auf der Weide vor meiner Veranda. Er ist etwas von Heimweh geplagt und schaut auf die Weiden, als würde er sagen wollen „Was soll ich hier bloß, wo bin ich hingeraten? Überall nur Weiden mit Kühen und Schafen darauf“.
Wir setzen uns bei einer Tasse Tee hin und er erzählt mir woher er kommt, wie das Leben in Finnland so ist und was er für Erwartungen an seinen Aufenthalt in Neuseeland hatte. Nach seinen Beschreibungen muss es für einen Sechzehnjährigen in Finnland sehr langweilig sein, es würde für diese Altersgruppe nur sehr wenig Freizeitangebote geben, oft hängen die Jugendlichen nur rum, jeder Tag sei wie der Andere.
Hier habe er mehr Abwechselung erwartet, aber ob er die auf dieser Farm finden wird, bezweifelt er doch sehr. Wenn er sich da nicht irrt...
Am folgenden Wochenende fahre ich mit Willi nach Wellington und wir besuchen die Seelöwen im Taputeranga Marine Reserve. Da wird er erfahren, dass Neuseeland noch mehr zu bieten hat.
Und meinen ersten Arbeitstag in Levin habe ich am kommenden Montag. Aber davon später mehr ...